Virtuelle Realität


> und die Bildbegriffe ungegenständlicher Kunst

von

Markus Brüderlin



Heinrich Klotz, der Direktor des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medientechnologie, rührte im Sommer 1992 bei der Eröffnung einer Ausstellung seines Institutes in Barcelona tüchtig die Werbetrommel: "Kaum je hat ein Kunstwerk seit den zwanziger Jahren soviel Unruhe gestiftet wie das Medienkunstwerk". Skeptisch fragte der Kunstkritiker Hans Joachim Müller zurück: "Ist das so?" und bei der an-schließenden dekonstruierenden Zerlegung der sogenannten "computergestützten visuellen Medien-künste" versucht der ehemalige Autor des Buches "Kunst kommt nicht von Können" zu zeigen, daß die Selbstauslegungen der Medienpäpste stets wiederkehrende Fiktionen enthalten wie etwa die Fiktion von der Interaktivität und Partizipation, diejenige vom Verschwinden des Körpers oder die Fiktion vom Ende der Mimesis. Was die klassische imitatio betrifft, diese wurde schon mit der abstrakten Kunst zu Beginn des Jahrhunderts endgültig überwunden. "Befinden wir uns wirklich in einer Phase künstlerischer Neuerung?"

Auffällig an vielen der rhetorischen Selbstreklamen von Medienleuten ist der unterwürfige Ton des Gesuchstellers, der endlich in den Tempel der Künste aufgenommen werden und seine Produkte als Kunst geadelt sehen will. Dabei wird wohl niemand ernstlich bezweifeln, daß Beiträge zur Weiterentwicklung des Kunstbegriffs aus diesem Bereich kommen werden, vielleicht schon gekommen sind. Das Interessante an der gegenwärtigen Situation scheint mir aber, daß die entscheidenden Beiträge gerade nicht von Aspiranten auf den Parnaß der Künste kommen, sondern von Experimentatoren, die zwischen den Kontexten werken und zuweilen mehr der Darstellung und Verarbeitung wissenschaftlicher Erkenntnis verpflichtet sind, als dem Output von ästhetischen Produkten. Diese sind oftmals noch besser in den Animationsshows eines David Copperfield aufgehoben als im Diskursfeld der Kunst.

Knowbotic Research :"Dialogue with the Knowbotic South"
Die multimediale Forschergruppe knowbotic research ist dafür ein gutes Beispiel. In dem interdisziplinären Projekt "Dialogue with the Knowbotic South" von Yvonne Wilhelm und Christian Hübler wird der Besucher zum User und kann in einer Echtzeit Installation selbsttätig nachvollziehen, wie Wissenschaft und Technik ein Stück Natur, im konkreten Fall die Antarktis, zu einem künstlichen Gebilde, zu einer Computer Aided Nature generieren. Es geht nicht nur um Kunst, sondern um Erkenntnis und um die durch die Auseinandersetzung mit Technologie und neuem naturwissenschaftlichem Denken veränderte Naturauffassung, die sich der synthetischen Fähigkeiten künstlerischer Methoden, aber auch des künstlerischen Kontextes bedient, um diese Erkenntnisse einer neuen Darstellungsqualität zuzuführen. Die Antarktisforschung bearbeitet ein geographisches Gebiet, das aufgrund seiner extremen klimatischen Bedingungen kaum zugänglich ist und nur durch technologische Hilfsmittel wie automatische Meßstationen, die ihre Daten direkt über Internet und Satellit in die Labors in Amerika und Europa über-mitteln, erfaßt werden kann. Die körperliche Unzugänglichkeit und die Komplexität der gefunkten Datenmenge machen ganz neue Codierungssysteme notwendig, die zum Schluß nicht mehr eine unsichtbare Landschaft beschreiben, sondern sie simulieren, d.h. sie künstlich generieren, ähnlich wie zu Beginn des Jahrhunderts die Kunst aufbrach, durch Überschreitung der sichtbaren Objektwelt das Unsichtbare zu erkunden, indem sie hypothetische Welten schuf. Die wissenschaftliche Forschung, die mit der Vernetzung von multidimensionalen Datenflüssen arbeitet, stützt sich mit Hilfe der opto-technischen Möglichkeiten zunehmend nicht mehr nur auf mathematische Codierungen, sondern verlangt nach ästhetischer Strukturierung, die die Komplexität in anschauliche Äquivalente übersetzt und damit Datenmengen handhabbarer und manipulierbarer macht. Biochemiker verbringen ja heute weniger Zeit vor dem Reagenzglas als vor dem Bildschirm, an dem sie ganze Architekturen von Molekülen konstruieren. Aus dieser Perspektive scheint denn auch die Frage, was aus diesen Experimenten für die Weiterentwicklung der Kunst abfällt, weniger virulent als umgekehrt die Frage, was denn die computergestützte Medientechnologie, die mit ihrer Verarbeitung von Wissen auf Anschaulichkeit und damit auf ästhetische Qualitäten aspiriert, von der Kunst lernen kann.

Die Darstellung des mehrdimensionalen, vernetzten Datenraums
Bisher kennen wir vordringlich die mißlungenen Produkte, in denen die Vernetzung von Wissenschaft, Technik und Ästhetik in der simplen Visualisierung von abstraktem, mathematischem Datenmaterial endete. So gut gemeint und gut aufbereitet solche Umsetzungen sind, so kommen sie bildtheoretisch kaum über die Qualität von einfachen Diagrammdarstellungen hinaus und bieten kunsttheoretisch kaum mehr Erkenntnisse über den Zusammenhang von Bildautonomie und Wirklichkeit als eine schön gefärbelte Fieberkurve über den Gesundheitszustand eines Patienten aussagt. Die Komplexität und die Vernetzung von Datenströmen und auch die Möglichkeit des aktuellen Eingreifens verlangen aber nach mehr-dimensionalen Darstellungsmodellen, die weit über die einfache Visualisierung hinausgehen und neue Bildbegriffe fordern, die - so die Vermutung des skeptischen Kunsttheoretikers - auch für die Kunst völlig neue Bildvorstellungen abwirft. Die aufeinander aufbauenden Projekte von knowbotic research arbeiten genau an der Frage, wie sich ein wirklicher qualitativer Sprung in der ästhetischen Verarbeitung von wissenschaftlicher Erkenntnis herstellen läßt, ein Quantensprung der computergenerierten und -vernetzten visuellen Medientechnologie, der nichts mehr mit simplem Illusionismus zu tun hat und eben deshalb das weit hinter sich läßt, was viele Computerkünstler in schönen Bildchen an ihren digitalen Zauberkisten elaborieren.

Ob es knowbotic research gelingt, die zunächst paradoxe Forderung nach einer neuartigen Visualität ohne sim-ple Visualisierung einzulösen, ist die offene Frage, die dieses Unternehmen sowohl für die Wissenschaft als auch für die Erkenntnistheorie und nota bene auch für die Kunst so spannend macht. Unser Auge ist auch nach hundert Jahren abstrakter Kunst ständig versucht, dreidimensionale Gebilde sofort mit der Illusion abgebildeter Gegenständlichkeit zu identifizieren. Diese optische Falle unserer Wahrnehmung ist den beiden bewußt. Um dem zu entgehen und gleichzeitig nicht in ein Bilderverbot zu verfallen, setzen sie auf die tatsächlich durch die Technik neudimensionierte Möglichkeit der Interaktivität, bei der der Betrachter über ein "private eye" (Minimonitor) direkt in die sich drehenden Datenkörper eingreifen und in einer ausgebauten Version über diese visuelle Struktur auch mit anderen Teilnehmern kommunizieren kann. Die Interaktivität, die H.-J. Müller zu Recht als stets wiederkehrende Fiktion der computergestützen Medienkünste analysierte, scheint hier eine echte Chance ihrer Realisierung auf höchstem Niveau gefunden zu haben.

Ungegenständliche Kunst als Kritik an der Virtual Reality
Eine entscheidende Meßlatte, an der der Erfolg abgeschätzt werden kann, liefert ein historisch im traditionellen Kunstbereich entwickeltes, ästhetisches System: das seit Kandinsky benannte Reich der ungegenständlichen Kunst. Von diesem kann die technologische Synthetisierung künstlicher Welten Entscheidendes lernen. Tatsächlich hatte die Malerei mit der Entfernung von der sichtbaren Gegenstandswelt eine Kette von neuen Bildbegriffen definiert, die, lange bevor es computergenerierte Bilder gab, Antworten suchten auf die Frage, wie der unsichtbare Zwischenraum zwischen den Dingen sicht-bargemacht werden kann, ohne in simplen Illusionismus oder ins einfache Diagramm zurückzufallen. Gleichzeitig beschäftigte sie sich die abtrakte Malerei mit der Konstruktion künstlicher Welten, mit einer auf der ungegenständlichen Bild-fläche sich realisierenden Virtual Reality. Wollen die computergestützten Medienkünste wirkliche Innovation leisten, so haben sie sich - und das sei hier die Behauptung - an dem zu messen, was traditionelle Malerkünstler wie Hölzel, Kandinsky, Malewitsch, Doesburg und Mondrian mit Pinsel und Farbe schon in den zehner und zwanziger Jahren im Geviert des Keilrahmenbildes realisiert haben. Die neue Qualität liegt nicht im Medium, wie es die Medienpäpste predigen, sondern in der substantiellen Veränderung des Bildbegriffs, d.h. in einem neuen Verhältnis von Bild und Realität. Im folgenden sei versucht, die Problemlage zu skizzieren, wie die theoretischen Errungen-schaften der abstrakten Malerei für die Suche nach neuen Bildbegriffen in den elektronischen Medien fruchtbar werden könnte.




Selbstdarstellung der Malerei und Ästhetik der Simulation
Ein Hauptprogramm der modernen Kunst, das allerdings schon vor der Eliminierung der Gegenstandswelt aus dem Bildgeviert eingeschaltet wurde, heißt "Selbstreferentialität". Im Prozeß des sukzessiven Unabhängigwerdens der Bildgegenstände, sprich Formen und Farben, von Inhalten, die außerhalb der Bildautonomie lagen, ist aber die Wende zum Ungegenständlichen ein entscheidender Sprung. Die von der Kunst entwickelten visuellen Konzeptionen der Selbstreferentialität können als wesentliche Vorarbeit für spätere Simulationsästhetik gelten, wobei "Simulation", entgegen Jean Baudrillards Verwendung des Begriffs, immer eine irgendwie geartete, nicht autonome Referenz auf ein Anderes anzeigt, während die "lauffähigen, autonomen Modelle" (V.R. Grassmuck) der apparativen, digitalen Logik prinzipiell die Hervorbingung synthetischer Welten und "selbsterschaffener Paradiese" ermöglicht. Nebenbei gesagt, wäre gerade anhand der bildtheoretischen Konzepte gegenstandsloser Kunst der Simulationsbegriff zu kritisieren.
Die sogenannte "abstrakte Malerei" beschäftigt sich mit verschiedenen Kategorien der Selbstdarstellung, etwa mit der Form oder mit dem durch gegenstandslose Formimpulse selbsttätig gewordenen Sehvorgang. 1890 leitete der Kunsttheoretiker und Nabiskünstler Maurice Denis mit seiner lapidaren Feststellung, daß das gemalte Bild zunächst einmal nur eine Fläche mit Farbe drauf sei, die "Selbstdarstellung des Mediums" ein, die mit der Verdinglichung von Malerei in der konkreten Kunst der dreißiger Jahre einen Höhepunkt fand. Das konkrete Bild wollte nicht mehr nur bedeuten, sondern als selbständiger Gegen-stand in der Welt existieren und entschied damit das Tauziehen zwischen Repräsentation und Präsentation, Wirklichkeitsdarstellung und Bildautonomie ganz zugunsten des letzteren. Tatsächlich hängt bis heute die Entwicklung neuer Bildbegriffe in der Kunst von der Frage nach dem Bezug oder Nichtbezug der formalen, der semiotischen, aber auch der materiellen Bildstruktur zu bildexternen Sachverhalten ab - oder vielmehr von dem Verhältnis dieser beiden Pole von Referenzialität und Autonomie. Gleichzeitig scheint bis heute in der Kunstwissenschaft keine Eindeutigkeit darüber erzielbar zu sein, was abstrakte Kunst eigentlich sei. Die Pluralität der Positionen zwischen "abstraktiv", "konkret", "absolut", "konstruktiv" zeigt, daß sich schon früh im 20. Jahrhundert verschiedenste Arten der Darstellung des Unsichtbaren und der Vermittlung von "Bildautonomie und Wirklichkeit" (Max Imdahl) herausgebildet haben, die z.T. auch innerhalb eines künstlerischen Werkes verschränkt waren. So schwankte Kandinsky zwischen der selbstreferenziellen und der gnostischen Abstraktion. Er sprach gleichzeitig von der abstrakten Kunst als einer konkreten Kunstwelt, die äußerlich nichts mit der Realität zu tun habe und die neben die reale Welt der Natur gestellt werde und neben die Form als "der äußerer Ausdruck des inneren Inhalts" eines Geistigen und des Mysteriums der Natur. Eine nachträgliche Systematik wäre, vielleicht nicht zuletzt aufgrund der Herausforderung der neuen, computergenerierten Bildmedien, heute sinnvoll. Hier eine skizzierte Übersicht, die auch andeuten soll, daß an-gesichts der Differenziertheit des Feldes der ungegenständlichen Kunst die simple Polarisierung von 'gegenständlich' und 'abstrakt' obsolet geworden ist.


'abstraktiv', 'absolut', 'ornamental', 'konstruktiv', 'konkret'; die fünf Ordnungen des modernen Verhältnisses von Bildautonomie und Wirklichkeit
abstraktiv Ein 'abstraktives' Bild ist eine formale Komposition, die durch sukzessive Stilisierung - eben Abstraktion - von in der sichtbaren Welt gegeben Gegenständen entsteht. Es vermittelt vom Gegenständlichen zum Ungegenständlichen im Sinne der Induktion, also eines linear gerichteten Prozesses vom Besonderen eines wiedererkennbaren Gegenstandes zum Allgemeinen einer inneren, abstrakten Formstruktur. Das Abstraktive hat immer repräsentativen Charakter, da im Rückverweis auf den Ausgangspunkt immer eine außerkünstlerische, nichtautonome Wirklichkeit, zumeist die Natur selbst, als Inhalt oder besser als Seinstotalität gemeint ist. Das Ziel ist das ungegenständliche Bild.
absolut Gleich zu Beginn der gegenstandslosen Kunst wurde mit der von Adolf Hölzel benannten "absoluten Kunst" die vollständige Autonomie postuliert, also die Loslösung des Tafelbildes von allen darstellenden Wirklichkeitsbezügen. Das "absolute Bild" versinn-licht, durchaus im philosophisch-aristotelischen Sinne, eine Ungeteiltheit. Darin ist der reine "Formsinn" als "inneroptische Bildtotalität" verabsolutiert, d.h. die bildnerischen Mittel von Linie, Form, Fläche und Farbe sind zu keinem Sachverhalt außerhalb des Bildes vermittelt.

Allerdings gibt es hinsichtlich der Kunst von Hölzel unterschiedliche Interpretationen: Während Egon Rüden mit der "inneroptischen Bildtotalität" Hölzels einen theoretisch formulierten Absolutheitsbegriff umschreibt, erkennen Hans Hildebrandt und Walter Hess in den Bildern immer einen irgendwie gearteten, kunstdifferenten Wirklichkeitsbezug, sei es zu inneren Zuständen (Hildebrandt) oder sei es zu kosmischen Harmonien (Hess), der die absolute Autonomie in Frage stellt. In Zusammenhang mit Hölzels Malerei drängt sich daher eine andere Kategorie auf, die zwischen Autonomie und Heteronomie vermittelt. Sie ist aus dem Bereich der Ornamentik schon bekannt und man kann sie deshalb als "ornamental" - gegenüber "abstraktiv" - bezeichnen . In Hölzels Bildern sind "inneroptische Bildtotalität" und "außeroptische Seinstotalität" noch miteinander vermittelt oder stellen zumindest zwei potentielle Möglichkeiten des Verhältnisses von Bild und Wirklichkeit dar. Eigentlich 'absolute Bilder' entstehen im strenge Sinne daher erst rund fün-fzig Jahre später durch Ad Reinhardt.
ornamental Das 'ornamentale' Bild ist im Unterschied zum 'abstrakten' nicht mehr allein repräsentativ, sondern auch 'selbstreferentiell' im Sinne der Selbstdarstellung elementarer Form- und Flächenprinzipien. (Mit 'ornamental' ist an dieser Stelle weniger eine äußere, visuelle Kategorie gemeint als eine methodische.) Es enthält also Verweise auf unsicht-bare Bildungsgesetzlichkeiten und Wesenheiten der Natur, auf allgemeine kosmische Ord-nungen oder auf das Allgemeine von Ideen (Ideation). Gleichzeitig konzentriert es sich auf die autonome "inneroptische Bildtotalität" reiner Formkonstellationen. Oft wurde bisher übersehen, daß es viele künstlerische Bildkonzeptionen gibt, wie beispielsweise die von Hölzel, die im Unterschied zur Abstraktion nicht von der gesehenen oder unsichtbaren Gegenstandswelt ausgehen, sondern von autonomen, flächenlogische Strukturen. Im bild-nerischen Prozeß können sich diese Elementarformeln nun - so wie wir es aus der Ornamentik kennen - entweder geometrisch formieren oder aber auch Gegenständlichem an-nähern, ohne Gegenständliches zu meinen. Es geschieht vielmehr ein wechselseitiger Übergang von Selbstdarstellung zur Repräsentation durch eine einfühlende Adäquanz zu verallgemeinerten, außerbildlichen Phänomenen wie kosmische Ordnungen, die im Bild einer "Besonderung", also Deduktion unterworfen werden. Das 'Ornamentale' vermittelt also zwischen der Autonomie im Sinne der "absoluten Kunst" und der Heteronomie im Sinne der Repräsentation einer außerbildlichen Wirklichkeit. In der Tradition war es, wie das Wilhelm Worringer 1908 in seiner epochalen Schrift "Abstraktion und Einfühlung" gezeigt hat, eben das Ornament, das diesen seit je bestehenden Konflikt zwischen dem Naturbezug der Form und deren autonomer Selbstdarstellung auszutragen hatte.

Diese Fähigkeit der ornamentalen, figurierenden Abstraktion, die bisher in der Kunsttheorie wenig Beachtung fand , bekommt mit Blick auf die heutige Simulationstechnologie, die mit Hilfe der Chaostheorie täuschend echte, rein durch mathematische Rechenoperationen generierte Naturbilder hervorbringt, eine besondere Bedeutung. Im Zusammenhang mit der ornamentalen Abstraktion scheint es nicht mehr sinnvoll, zwischen gegenständlichen und ungegenständlichen Formationen so zu unterscheiden, wie vordem zwischen Mimesis und Abstraktion. Beides kann gleich "wirklich" sein im Sinne der konkreten Kunst. (Dafür ist auch der Umstand mitverantwortlich, daß unsere visuelle Lebenswelt selbst zunehmend von abstrakten Mustern geprägt ist). Diese Gleichwertigkeit wurde eigentlich schon mit Hölzel vorweggenommen. In der "inneroptischen Bildtotalität" des ab-soluten Bildes stehen gegenständliche und ungegenständliche Konkretion in einem gleich-wertigen Verhältnis, d.h. sie sind gleichermaßen synthetisch. Im Kern trifft dies auch Kandinskys System von "Großer Realistik und Großer Abstraktion": "Hier sehen wir schon, daß es also im Prinzip gar keine Bedeutung hat, ob eine reale oder abstrakte Form vom Kün-stler gebraucht wird."
konstruktiv Das Konstruktive beschreibt eine nach möglichst rationalen und wissenschaft-lichen Gesetzen aufgebaute Bildstruktur. Viele technologische Bildproduktionen unserer Tage könnte in diesem Sinne als 'digitalisierter Konstruktivismus' bezeichnet werden. Bildtheoretisch ist daran aber nichts neu. Was neu ist, sind die Hilfsmittel. In der Kunst sind konstruktive Werke meist solche, die ihre eigene Konstruiertheit und ihren inneren logischen Aufbau dem Betrachterauge als Bildthema zugänglich machen.
konkret Was Theo van Doesburg in dem berühmten Manifest "Art Concret" mit dem Satz "Peinture concrète et non abstraite, parce que rien n'est plus concret, plus réel qu'une ligne, qu'une couleur, qu'une surface." festgehalten hat, wurde im Prinzip schon von der sogenannten "absoluten Kunst" um 1900 gefordert, nämlich die Malerei als völlig selbstständige Erfindung zu sehen losgelöst, von allen darstellenden, nachahmenden Bezügen zu außer-halb des Bildes Befindlichem. Der Unterschied zur absoluten Kunst bestand lediglich in ihrer "Dinglichkeit", während 'absolut' und 'ornamental' in ihrem repräsentierenden und selbstdarstellenden Charakter noch an der Wahrnehmung einer "Bildlichkeit", einer "inner-optischen Bildtotalität" (Rüden) orientiert waren. 'Konkret' dagegen bedeutet die Konkretisierung des Formsinns als Dingliches, das "Dingsein der Form" als etwas Reales. Das Ziel ist, das Tafelbild als etwas Reales in der Welt der wirklichen, konkrete Dinge zu etablieren. Mondrian wollte 'konkret' auch durch 'real' ersetzen - real im Sinne von "mit dem Leben verbunden": "Die abstrakte Kunst ist konkret. In den Grenzen der bildnerischen Mit-tel kann sich der Mensch eine neue Realität schaffen. Es wäre am besten, die neue Ge-staltung mit dem Namen reale Kunst zu bezeichnen."

Man könnte nun die Entwicklung der bildtheoretischen Begriffe noch weiterver-folgen und käme auf einer nächsten Stufe zum Funktionalen der gegenstandslosen Kunst. Wenn das Bild nämlich zu einem Selbständig-Wirklichen geworden ist, das sich auf nichts anderes repräsentierend bezieht, dann kann dieses Artefakt seine Verhältnisse zu den anderen Dingen in der Welt nurmehr funktional definieren. Das Funktionale ist die eigentliche Konsequenz der 'konkreten Kunst'. Eine nächste Station wäre dann das Serielle der sogenannten "Non-Relational Art" der amerikanischen Malerei der fünfziger Jahre mit Jasper Johns' selbstreferentieller Pop-Ikone an der Spitze, mit der es gelingt, die amerikanische Flagge als ein Stück ungegenständliche Malerei verständlich zu machen. Es wurde aber vielleicht schon bemerkt, daß die für die Kritik von Virtual Reality interessanten Stufen schon in dem Spannungsfeld zwischen 'abstraktiv', 'absolut' und 'ornamental' erreicht wurden. Von hier aus wäre zu fragen, ob durch die technischen Fähigkeiten des bewegten Schirmbildes, durch die Vernetzung von Datenströmen und schließlich durch die Interaktivtät wirkliche, neue, bildtheoretische Vorstellungen entstehen, die in der Malerei bisher nicht durchgespielt wurden, nun aber im elektronischen Bildraum möglich werden. Dann scheint es angezeigt, die skeptische Frage von H.J. Müller, ob wir uns mit den " computergestützten visuellen Medienkünsten" wirklich in einer Phase künstlerischer Neuerung" befinden, zu bejahen.