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Zürich, 1 may 2005




 

 

 

 

 

 

 

 







 


Passion 5 - ein Ereignis
Im Ereignis sieht man das Untolerierbare einer Epoche und zugleich neue Lebensmöglichkeiten, die sie beinhaltet.
Maurizio Lazzarato

Fahnen, rote, ohne Aufdrucke - ein orange-farbener Besenwagen, aus dem 1.Mai-Parolen plärren - ein den Raum scheinbar autonom durchfliegender Zeppelin mit Kamera - ein Mensch Yannick Fournier (wirklicher Name: Yannick Fournier), Informatiker, angestrengt etwas programmierend, Hilfe bei den BesucherInnen suchend - eine 12m Meter hohe Hebebühne, oben eine Grossleinwand, auf der Fournier als unablässiger Talking Head zu sehen ist. Dazu Flyers, die zum Runterladen von 1.Mai Parolen als Klingeltönen von einem Internet-Server einladen. Ausserdem: Eine Art Schild, das an Verbots- oder Achtungs-Schilder auf Baustellen erinnert, darauf ein anonymisiertes Textfragment. Der Kontext: eine zur Waren- und Erlebniswelt transformierte Industriehalle.

Bausteine des Realen neu zusammengefügt, Kunst? Seit Duchamps Urinoir - klar, ja. Aber auch etwas ältlich, nicht mehr ganz frisch, abgegriffen, provokativ? Das war mal.

Sehen wir näher zu. Passion, Leidenschaft. Die roten Fahnen als leere Zeichen. Die skandierten 1.Mai-Parolen - schal, abgegriffen, irreal - und dennoch: Noch in dem delirierenden, kollektiven Skandieren ist eine Leidenschaft, spürbar, wie auch immer verloren, wie auch immer gefesselt. Die Parolen - ausgestrahlt und eingesammelt zugleich vom Besenwagen. Noch mal kenntlich gemacht, ein Angebot, und dann endgültig auf den Abfallhaufen der Geschichte geschickt. Sauber und adrett bleibt der Boden zurück. Leidenschaftlich auch der Wissensarbeiter, der voller Motivation versucht, den Zeppelin zu programmieren. Passion 5 ist ein zeitgenössisches, hochaktuelles Stück Public Art. Eine Public Art allerdings, Galaxien entfernt von Public Art als Behübschung, Gentrifikationsmittel, als Kunst am Bau oder politisch korrekte Intervention in den öffentlichen Raum. Passion 5 setzt nicht bei der Repräsentation von Dingen, Sachverhalten, Ereignissen in einem öffentlichen Raum an. Im Gegenteil, Passion 5 bricht mit dieser Vorstellung. Passion 5 geht von der Einsicht aus, dass der urbane öffentlich Raum, Öffentlichkeit insgesamt, erstens nichts Gegebenes ist, zweitens nicht durch Konsens, sondern durch Konflikt erzeugt wird, drittens dass der öffentliche Raum gar kein Raum (unter Räumen) ist, sondern eher ein Prinzip: Ein Prinzip der permanenten Dislokation.

Die Bilder, Zeichen und Aussagen von Passion 5 repräsentieren nicht etwas, sondern stehen unter dem Paradigma des Ereignisses. Sie bilden nicht ab, sie sind nicht die Lösung eines Problems, sondern Problem selbst: die Eröffnung eines Möglichen. Die Industriehalle und die darin verfügte, vielfältig zusammengesetzte Passion 5 schaffen neue Möglichkeitsräume. Die leeren Zeichen für längst vergangenen Passionen (1.Mai-Reden) verweisen dennoch auf eine unabgegoltene Lebenslust hinter den leeren Phrasen. Zweite Möglichkeit: Die Lust auf die Warenwelt, die Einladung zum Herunterladen von Klingeltönen mit 1.Mai-Parolen als Einladung, am möglichen Hype und seiner Community teilzunehmen, als betörende Organisation von Wahrnehmungsweisen, die zu Lebensweisen auffordern. Schliesslich: Die Möglichkeit des leidenschaftlichen Wissenschaftlers als Selbstunternehmer. Er repräsentiert nicht die Situation, in der wir uns alle zunehmend befinden, er ist die Situation: der Selbstunternehmer als Selbstunternehmer, weil er mit dem Publikum (bzw. das Publikum mit ihm) kollaboriert, kollaborieren muss. Kommt es nicht dazu, scheitern beide. Umgekehrt: In der Kollaboration als Reden, Kommunizieren, Fragen, Antworten, mit anderen Worten: In der Kollaboration als Präsentation wird einer möglichen Welt eine gewisse Wirklichkeit verliehen. Sprachen, Zeichen, Bilder, Aussagen sind "das Mögliche, mögliche Welten, die die Seelen (die Gehirne) affizieren und sich in den Körpern verwirklichen müssen" (M. Lazzarato).

Bleibt als letztes die leicht verstellte Aufforderung-/ Verbots-/ Achtung!-Tafel in Passion 5. Es heisst dort: "Das Wichtigste an unserem Schicksal (…) ist die Tatsache, daß wir fluktuieren, daß unser Ort nicht klar ist, unsere Überzeugungen nicht klar sind, dass wir keine Plätze, keine Zeiten vorgeschrieben bekommen, an und zu denen wir unsere Überzeugungen, unsere Meinungen, und dann auch unsere Gefühle und Wünsche zur Sprache bringen können. Wird diese unsere Profanität repräsentiert, d.h. verortet, fixiert, in eine bestimmte toplogische Ordnung eingeschrieben, dann sind wir nicht mehr wir." Oder doch?


Zürich 2005, Giaco Schiesser
   
november 2005