Wie die Etoy-Kampagne geführt wurde
Reinhold Grether 09.02.2000
Ein Agentenbericht

Etoy und eToys existieren nur übers Web, allerdings auf unterschiedlichen Steigerungsstufen der Virtualität. EToys betreibt www.etoys.com, um hunderttausend Spielsachen in Millionen Kinderhände gelangen zu lassen. Die Webseite
ist eine Drehscheibe, die Realien in Umlauf bringt. War es Toys'R'Us in den achtziger Jahren noch möglich, das Spiele-Universum in einem Netz aus Großkaufhäusern real zu präsentieren, wird es Ende der neunziger von eToys in einem Netz von Computerterminals als rein virtueller Zeichenraum zur Darstellung gebracht. Unterschiedliche Vertriebsformen, die sich auf dieselben Realien beziehen. Etoy, der künstlerische Dritte, steigert die Realabstraktion zur rein virtuellen Netzexistenz. Die Toys von etoy sind voll und ganz in Datensets codiert und das einzige käufliche Kunstprodukt der Gruppe sind Beteiligungspapiere, etoy.SHARES, die zunächst über Galerien und seit jüngstem über die Toywar-Plattform in Umlauf gesetzt werden. Wer Anteile erwirbt - durch Kauf, Rekrutierung oder Ableistung bestimmter Aufgaben - wird Teil eines Kunst-Universums, das sich ausschliesslich im Netz abspielt.

Etoy durfte das Übernahmeangebot von eToys, das seinerzeit immerhin eine Million DM wert war, aus künstlerischen Gründen nicht annehmen. Zwar hätte die Story funktioniert, schließlich gehören "unfriendly takeovers" zum Geschäftsalltag. Netzkunst hätte erstmals einen aufsehenerregenden Preis erzielt und nomadische Künstler verlegen Domains sowieso in die jeweilige Subversionszone. Das Projekt einer virtuellen sozialen Plastik wäre allerdings mit der Domain außer Reichweite geraten. Es grenzt an Hohn und zeugt von schlechtem Gedächtnis, wenn etoy heute vorgeworfen wird "abzusahnen". Eine ungleich größere Menge Sahne haben sie versauern lassen.
So standen sich also zwei Webrepräsentanzen gegenüber, die parasitäre von eToys, die den Umlauf schon bestehender Realien organisierte, und die autochthone von etoy, die mittels webbasierter Tools sowohl virtuelle als auch reale gesellschaftliche Prozesse unter Selbstentblößungs- und Veränderungsdruck setzte. Zwei Beteiligungsmodelle stießen aufeinander, eines, das Kursveränderungen von Börsenpapieren notiert, und eines, das Partizipationsleistungen mit Projektanteilen honoriert. Gleichermaßen war es ein Konflikt zweier Lebensformen, einer konsumistischen, die dem Verzehr, hier einer Domain, absoluten Vorrang einräumte, und einer artistischen, die statt Kunstobjekten die Ausstellung komplexer sozialer Praktiken zum Gegenstand von Kunst erklärte. Und nicht zuletzt stand die Zukunft des Web auf dem Spiel. Sollte es auf eine Transaktionsplattform für ECommerce abgehalftert - oder sollten die in ihm angelegten Möglichkeiten spontaner Vernetzung, "sozialer Informationsverarbeitung" ( Michael Giesecke), kultureller Überlagerung, Verflechtung und Durchdringung und personaler Globalisierung weiterentwickelt werden?

Darin besteht die Kunst von etoy, diese Polaritäten in aller Klarheit exponiert und der Netzöffentlichkeit zum Entscheid vorgelegt zu haben. Und obwohl Toywar erst einen Monat nach dem ersten Gerichtsbescheid ans Netz ging, haben die Netizens diese Frage verstanden und auf ihre Weise beantwortet. John Perry Barlow hat recht, wenn er sagt, wir alle sollten etoy dankbar sein. Anerkennung verdienen aber nicht nur die Freistellung der Fragestellung und die Entwicklung von Toywar, sondern auch die öffentlich nicht sichtbare Verfeinerung der juridischen Probleme. Was da an Druck und Gegendruck, an Drohkulissen und gezielten Irreführungen auszuhalten und aufzubauen war, darüber können nur die unmittelbar Beteiligten etwas mitteilen. Das juristische Resultat bezeugt jedenfalls dieselbe Klasse wie die Exposition des Entscheidungsproblems.

Ist doch alles keine Kunst? Kunst ist ein Zuschreibungsbegriff, der seine Belege laufend ändert. Renaissance, Romantik und Moderne haben eine Unzahl von Konzepten entwickelt, die aus dem Überblenden von Kunst und Leben ästhetische Funken schlagen. Etoy steht in diesen Traditionen. Gibt's doch alles schon bei Duchamp? Duchamps "ready-mades" wahren weitgehend Objektcharakter, etoy zwingt komplexen sozialen Prozessen, diesmal der Vermarktung und
Vermachtung von Virtualität, Ready-made-Charakter auf. Die Praktiken von etoys und Network Solutions, das sind die Ready-mades der 00er Jahre. Hat nicht Beuys das Thema der sozialen Skulptur voll und ganz erschöpft? Falsch, Beuys hat soziale Plastiken im Medium des anthropologischen Psychismus entwickelt, im Medium des transanthropischen Virtualismus gibt es erst Ansätze, beispielsweise Luther Blissett und Toywar.

Warhol betrieb die Rekontextuierung von Alltagsikonen im großen Stil, Koons exponierte die Pornographie der Oberfläche und die Business Art der 80er Jahre inszenierte corporate identity bis zum Abwinken, was also soll uns etoy? Etoy's Perversion besteht darin, die Wertentwicklung einer einzigen Ikone, ihres als www.etoy.com virtuell dargestellten Namens, in den Aufmerksamkeitsspiralen des Ökonomischen, des Politischen, des Sozialen und des Künstlerischen Umlauf für Umlauf nach oben zu schrauben und so den Wertschöpfungsprozess der Finanzmärkte im Exzess der Selbstüberdrehung zu spiegeln. Da genügt es eben nicht, wie Ingold Airlines eine Fluglinie nur zu simulieren, man muss schon mit den "fucking plug-ins" von agent.jeff Lauda Air die Start- und Landeslots abjagen.

Bringing IT to YOU....

Als, wir schreiben November 1999, das eToys-Management seinen Coup einfädelte, der Richter Shook über den Akten brütete und etoy das Konzept der Toywar-Plattform entwarf, hatte ich gerade ein mehrmonatiges Studium der Kursentwicklung am Neuen Markt, dem deutschen Pendant zur amerikanischen Technologiebörse Nasdaq, hinter mir. Für das Gros der Werte gilt, dass einem steilen Anstieg nach Börseneinführung und einer mehr oder minder langen Zickzackplateauphase ein deutlicher Kursverfall folgt, der in ein lustloses Herumdümpeln auf Emissionspreishöhe mündet. Dem Wert fehlt, wie man sagt, Phantasie. Da die jungen Firmen die Märkte erst schaffen, auf denen sie sich bewegen, lässt der Kurs die miserabelsten Marktdaten abtropfen, solange die Story die Kurserwartung beflügelt.

Die eigentliche Dynamik liegt in der Story, dem Imaginären der Börse, die wie der Föhn solange für Auftrieb sorgt, wie heiße Luft nachgeliefert wird. Verliert die Story im Lauf der Zeit an Plausibilität, hat der smarte Anleger die Gewinne mitgenommen, dasselbe Papier auf Termin geliehen, zum hohen Kurs verkauft und bei Fälligkeit zum gesunkenen Kurs zurückgekauft und zurückgegeben. Wer die Wendemarken antizipiert, verdient sowohl bei der Berg-als auch bei Talfahrt. Souverän der Spekulation ist, wer die Story dreht.

Dreht sich die Story, dreht sich der Markt. Der Kurs verfällt, weil ein Überhang an Marktteilnehmern glaubt, bei sinkenden Kursen besser zu verdienen als bei steigenden. Unangenehm nur für die, die auf hohen Kursen sitzen bleiben. Langzeitanleger warten auf die nächste Hausse, andere stellen ihre Verluste glatt und verstärken den Trend, und richtig Mitleid verdienen diejenigen, denen Börsenregeln das Handeln verbieten. Das sind, in den sechs der Börseneinführung folgenden Monaten, die Gründerinvestoren und das beteiligte Firmenmanagement. Schaut man sich zudem das
Marktumfeld, den generellen Börsentrend und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung an, können nicht nur Literatur- und Wirtschaftswissenschaftler argumentativ unterfütterte Aussagen über die Zukunft von Story und Kurs riskieren.

Streiten zwei sich um dasselbe, z.B. die Domain www.etoy.com, wird derjenige gewinnen, der das begehrte Gut in den Augen der Gegenseite als doch nicht so begehrenswert erscheinen lassen kann. Heiß begehrt war die Domain von eToys, verliert sie doch 20.000 von 300.000 Hits pro Tag an etoy.com. Heiß begehrt war die Domain von etoy, war sie doch die Knallreferenz ihrer Kunstexistenz. Und besonders brisant war der Streit, weil die Kontrahenten unterschiedliche Logiken bespielten, die der Wirtschaft, wo es um Zahlungen, und die der Kunst, wo es um Absonderliches geht. Die Künstlergruppe besaß einen doppelten Heimvorteil: einmal gehörte ihr die Domain und, viel wichtiger, die Ausstellung des Absonderlichen der Finanzwelt war nichts weniger als ihr künstlerisches Projekt. Während etoy immer beide Logiken ausspielen konnte, gelang es eToys weder, den Gegner wirtschaftslogisch, z.B. durch eine Prozesskostenlawine, zu erdrücken, noch eine dritte Logik, z.B. die Kriminalisierung der Netzaktivisten, aufzurüsten. Dass eToys in der Kunstlogik nicht gegenhalten konnte, wird ihnen keiner verübeln.

Als ich, ohne einen der Beteiligten zu kennen, mit "a new toy for you" den Kern der späteren RTMark_Kampagne entwickelte (alles nachzulesen auf www.hygrid.de/etoyrhiz.html), kam es darauf an, einen unbestechlichen Spiegel aufzustellen, der die absonderlichen Spielzüge von etoy.arts und etoy.politics als Marktwertverluste für eToys erscheinen lassen würde. Dieser Spiegel war die Nasdaq-Notierung von eToys, von der ich annehmen durfte, dass die ihren Auftrieb beflügelnde Story sich erschöpft hatte und der Markt nur darauf lauerte, einen nachhaltigen Abschwung einzuleiten. Den Fokus der Kampagne auf die Vernichtung von eToys' Börsenwert zu richten, war eine Spekulation auf
eine Spekulation, eine Metastory, die dasselbe noch einmal erzählte, wie die parallel und autonom auf Niedergang programmierte Story. Wie etoy.arts die Domainnachbarschaft als Werteffekt, so nutzte etoy.politics den Kursverfall als Kampfeffekt. "To hype out the hype" tauften das Ricardo Dominguez und ich im Thing-BBS-Chat.

Es war kein Hasard, sondern eine gepflegte Kalkulation: Das Papier ging am 20. Mai an die Börse und ab 20. November drängten die Insider in den Markt; der Kurs hatte die Weihnachtsgeschäftserwartung antizipiert (eskomptiert, wie Fachfrauen sagen) und bewegte sich bereits nach unten; alle eRetailer gerieten unter Druck, weil die traditionellen Handelsunternehmen elektronisch Fuß fassten. Und die Kampagne würde soviel Wirbel erzeugen, dass die Mehrzahl der Neuinvestoren auf Baisse setzen würde.

Etoy.arts war konzeptionell und juristisch glänzend aufgestellt. Etoy.politics zog innerhalb von Tagen nach. Die Richtertinte war kaum trocken, erfolgten die ersten Attacken auf eToys' Webseite. Die spontane Selbstaktivierung Hunderter und das Tempo des Informationsflusses waren Trumpf. Ein Ruhmesblatt unmoderierter Mailinglisten wie Rhizome, wo mein urgently needed - 36 Minuten nach Empfang der Nachricht an nettime und 4 Minuten später an Rhizome gepostet - längst eine Welle positiver Resonanz ausgelöst hatte, als nettime-Moderator Ted Byfield mich wissen ließ: "we don't send out stuff like this". Dabei kam doch alles darauf an, sofort über eToys herzufallen und sie, die ohnehin mit dem gigantischen Weihnachtsgeschäft an der Schmerzgrenze arbeiteten, bis zur Besinnungslosigkeit mitAttacken einzudecken. Die auf Rhizome subskribierte Medien- und Netzkunstszene hatte das sofort begriffen und kurz nach "a new toy" fand ich mich selbst in die mit Hochdruck arbeitende workgroup der Künstlergruppe RTMark gehijacked.

EToys, dem zunächst die Eingabefelder der Webseite und dann die Mailboxen des Managements mit Protesten zugepflastert wurden, und das, mithilfe Richard Zachs unschätzbarer Feedbackpage, in einen verheerenden Pressestrudel gerissen wurde, musste unmissverständlich klar gemacht werden, dass sie einem kräfteaufreibenden Gegner mit Talenten zu großer Politik gegenüberstanden. Etoy verdeutlichte das auf der juristischen Ebene, RTMark auf der politischen, der Nasdaq-Börsenwert auf der finanziellen und das virtuelle Sit-in auf der infrastrukturellen.

Ein virtuelles Sit-in ist zunächst nichts weiter als ein gemeinsamer Aufruf einer Webseite. Fordert man die Webseite schneller an als sie sich aufbaut, erhält der Server einerseits die Rückmeldung, dass die Seite nicht mehr gebraucht wird, und andererseits die neue Anforderung. Skripte, die auf dem eigenen Rechner oder auf zwischengeschalteten Servern laufen, automatisieren diesen Prozess und ab einer gewissen Abfragemenge gerät der attackierte Server unter Stress. Man muss nun sehr genau zwischen einer aus privaten Motiven erfolgenden Lahmlegung eines Servers und einer politischen Aktion unterscheiden, die offen, mit klar formulierten Gründen und für eine begrenzte Zeit eine Webseite stört. Es ist dann, einem Lohnrunden-Warnstreik vergleichbar, ein Mittel zivilen Ungehorsams, das der Gegenseite Un- und Kampfesmut signalisiert. Ein virtuelles Sit-in riskiert, symbolische Aktionsformen im Medium der Virtualität zur Geltung zu bringen.

Im Falle eToys wurde peinlich darauf geachtet, den Server nur kurzfristig (sechs 15-Minuten-Perioden an zehn vorweihnachtlichen Tagen) anzugreifen und unter keinen Umständen völlig außer Gefecht zu setzen. Es gab ein "killerbullet script", das dazu imstande war, und sein Einsatz wurde einhellig abgelehnt. Ein Beteiligter schrieb: "I'm not ready to trade the distributed, swarming, community of activists model for a single tactical nuke." Es ging um den symbolischen Ausdruck der Breite des Protests und nicht um einen Terroranschlag.

Über die Wirkung lässt sich folgendes sagen: Es gab weltweit sieben oder acht rotierende Mirrors, auf denen fünf unterschiedliche Skripte liefen. Dazu kam eine größere Anzahl im Netz zirkulierender Tools, die auf Heimcomputern installiert werden konnten. Allen gemeinsam war, eToys' Server zur Abarbeitung von Routinen anzuhalten. Das raffinierteste Skript war wahrscheinlich "killertoy.html", ein nicht-lineares Skript, das cookies-basierte Warenkörbe unablässig füllte, ohne jemals einen Kauf zu tätigen. Bei jeder Anfrage musste der Server die ganze Liste neu durchrechnen, was mit zunehmender Größe immer länger dauerte, generierten einzelne Mirrors ja über hunderttausend Anfragen täglich. Die einfachen Seitenabrufe des ersten Tags verarbeitete eToys' Server klaglos, die ausgefeilteren Skripts ab dem zweiten Tag machten ihm dann schon zu schaffen. Anfragen bestimmter IP-Adressen wurden komplett blockiert, wodurch sich eToys aus diesen Netzen selbst herausnahm. Die "super_plus_version" des virtuellen Einkaufsskripts war es dann, die zur Schließung einer Thing-Website durch den Backbone-Provider Verio führte. Auch hier hatte die "hype-out-the-hype"-Strategie gegriffen, die den virtuellen Einkaufskorb von eToys durch virtuelle Einkäufe immer weiter virtualisierte.

Nicht weniger bedeutend war die kontinuierliche Präsenz in sämtlichen mit eToys befassten Investorenforen. Hier kam es zu atemberaubenden Diskursüberschneidungen. Anfangs herrschte die Häme der Finanzwelt über die Trauergemeinde der Domainverlierer. Das Vokabular des Investors ist aber schnell gelernt und bald sahen sich die auf Hausse spekulierenden Aktionäre mit jeder Menge negativer Finanzdaten konfrontiert. Als der Markt unwiderruflich kippte, übertrumpften die auf Baisse setzenden Investoren selbst die Tiefstapelei der Aktivisten.

Die Finanzpresse war so fest in eToys' Hand wie die Kulturpresse in etoy's. Mit dem pikanten Unterschied, dass die eine Seite wie der Teufel publizierte und die andere jede Publizität zu meiden trachtete. So wand sich die Finanzpresse, die eToys dramatischen Kursverfall ja nicht unkommentiert lassen konnte, um den Impact der internet renegades möglichst unsichtbar zu halten. Bis dann, nach eToys erstem Einlenken, Bloomberg.com auf einmal eine komplette RTMark-Presseerklärung brachte. "It's hysterical", mailte deren Begründer.

Keine persönliche Begegnung, kein telefonischer Kontakt. Email und Webseiten, sonst nichts. Heißlaufender Email-Verkehr am frühen Abend und falls nötig am frühen Morgen. Dann Zeit zum Nachdenken. Kurz nach Mittag Mails an Rhizome, damit die Ostküsten-Frühaufsteher gleich im Bilde waren. Flow, wenn zehn bis zwanzig gleichzeitig kommunizierten und Wissen um den Globus jagten. Jeder kann es, Du auch. E-Mail-Finish mit elektronischen Steinschleudern! Hunderte von Toywar-Agenten nehmen das eToys-Management von Toywar aus unter Beschuss!! Bedingungslose Kapitulation!!!
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