>TULIPOMANIA Am 4. Juni 2000, 16-20 Uhr findet im Frankfurter Kunstverein in Zusammenarbeit mit De Balie / Amsterdam der dritte Teil der Konferenz "Tulipomania Dotcom A Critique of the New Economy" statt.

KONZEPTTXT_GEERT LOVINK *** Bis vor kurzem haben die globalen Finanznetze, in denen Milliarden von Dollars in Aktien, Anleihen und Devisen in Sekunden um den Globus bewegt werden, als eine geschlossene Einheit operiert, die sich auf eigene Netzwerke verließ und in notorisch undurchsichtigen Organisationen eingebettet war. Zweifellos wurde der erste große Wirtschaftboom Mitte der Achtziger vom Zusammenwirken neuer Technologien und einem hinter den Kulissen stattfindenden Lobbyismus angetrieben.

Seit Mitte der Neunziger ändert sich dies. Vielfache Zugänge zum Internet erlauben jedem, der das nötige Kapital hat, Daytrader zu werden. Online-Broker wie Schwab und e-Trade boomen. Parallel dazu sind die Finanzmärkte zum Prime-Time-Thema mit eigenen Nachrichtenkanälen geworden.

Die Veränderungen scheinen den Einfluß dieser Netzwerke verstärkt zu haben. Mehr und mehr Leute haben ihre Ersparnisse dem Schicksal des Marktes überantwortet, und mehr und mehr mediale Absatzmärkte verstärken die Ideologie der Spekulation. Die neo-liberale Agenda scheint zu dem geworden zu sein, was Ignacio Ramonet das "one idea"-System nennt: der deregulierte Markt, scheinbar ohne Alternative.

Dennoch, die Verläufe systemischer Krisen in Mexiko, Südostasien, Rußland und Brasilien hatten verheerende Auswirkungen und trieben zig Millionen Menschen in die Armut. Die Weltwirtschaft, noch nicht ganz erholt von diesen Schocks, wird früher oder später vor der nächsten Rezession stehen, wahrscheinlich destruktiver als irgendeine der vorigen. Angesichts dieser Perspektive wird die globale Autonomie der Finanznetze ebenso wie die dahinter stehende neo-liberale Agenda des freien Handels und der Globalisierung zunehmend in Frage gestellt.

Bisher ist deren makroökonomische Analyse jedoch keiner gründlichen Kritik unterzogen worden, ebenso wenig sind kulturell-technologische oder künstlerische Perspektiven bislang zum Tragen gekommen. Stattdessen herrschen in der gegenwärtigen Situation die moralischen Urteile vor. Radikale Kritik fällt allzu leicht in emotionale Verteidigung zurück: des Nationalstaates und seiner historisch mit ihm verbundenen Institutionen des Konfliktausgleichs wie Gewerkschaften und soziale Sicherungssysteme (die selbst gerade einer rapiden Transformation unterliegen); der politischen Parteien; der öffentlichen Meinung usw. Die Demokratie als solche scheint auf dem Spiel zu stehen, wenn diese Verteidigungshaltungen sich auch noch mit wiederaufflammenden Nationalismen verbünden, die die Bevölkerung gegen dunkle äußere Mächte zu formieren trachten (so genannte jüdische Spekulanten, arabische Eurodollars, US-Imperialismus, japanische Expansion, angelsächsische Weltherrschaft und so weiter).

Ehemals innovative akademische Paradigmen wie Postmodernismus und Cultural Studies sind unfähig, mit diesen Phänomenen adäquat umzugehen; stattdessen kreisen sie in zunehmend isolierten Kämpfen und irrelevanten Jargon-Kriegen um sich selbst und halten dabei ihre Praktiker und ihre Gefolgschaft im bequemen Gefängnis selbstreferentieller Diskurse fest. Seit der "Krise des Marxismus" Mitte der Siebziger haben die Geisteswissenschaften den Bezug zur Ökonomie scheinbar gänzlich verloren. Die Sozialwissenschaften haben sich in die sicheren Gefilde einer förderungsfähigen akademischen Forschung zurückgezogen. Dies führt schließlich zur Dominanz des Business-Jounalisten, jenes Chronisten unserer Zeit, der in den meisten Fällen sich auf die Wiederaufbereitung von Pressetexten zu noch einem glorreichen Börsengang beschränkt.

Während die Hauptströmungen des Diskurses sich in ihren Widersprüchen verfangen, werden die Ränder zunehmend aktiv. Es gelingt immer eher, getrennte Disziplinen und Praktiken zusammenzubringen: die neue Generation Politischer Ökonomen, Anti-MAI-, Anti-IMF- und Anti-WTO-Aktivisten, kritische Analysten der Internet-Ökonomie und des Wall Street "Kasino-Kapitalismus", kombiniert mit Medienkritikern und Software-Entwicklern wie der Open-Source-Community.

Es ginge nun darum, attraktive und produktive Konzepte für eine progressive, nicht-regressive Kritik der inneren Logik vernetzter Wirtschaftssysteme zu entwickeln. Das Ziel könnte sein - d.h. das Ziel einer sich entwickelnden, translokalen, virtuellen Intelligentsia, die gerade im Zentrum der Netzwerke aktiv ist - die genauen Mechanismen und nicht nur die Konsequenzen der vernetzten globalen Ökonomie zu verstehen. Es ist an der Zeit, aufzuholen und neue Konzepte zu entwickeln, die über die "Adapt or die"-Rhetorik der "Third Way"-Visionäre und ihrer nationalistischen Gegenspieler hinaus gehen. Dabei geht es auch um Strategien, der linken Schwermut zu entkommen und aktivistische Simplifizierungen zu vermeiden, die so oft Ort und Logik verwechseln: im Angriff auf leere Eingangshallen. Die Proteste gegen das WTO-Treffen in Seattle (Dez. 1999) haben gezeigt, daß es hingegen für eine breite Koalition von NGOs, Gewerkschaften und Einzelbürgern möglich ist, den Mangel an Transparenz auf die Tagesordnung der globalen Medien und der Politiker zu setzen.

Es ist von strategischer Bedeutung, die geschlossene Welt der Finanzsysteme und die so genannte New Economy nicht mehr zu trennen. Überbewertete Internet-Aktien und die enorme Kaufkraft, die sie generieren, sind nur ein Punkt. Der Crash der Technologie-Werte könnte unter Umständen in die nächste Wirtschaftskrise führen. Daneben gibt es Entwicklungen unter der Oberfläche, die dringend analysiert und öffentlich diskutiert werden müssen. Treibt der ICT-Sektor wirklich die Produktivität in die Höhe? Was sind die Langzeitwirkungen eines dezentralisierten, nicht-lokalen 24-Stunden-Handelssystems? Was wird passieren, wenn ganze Bevölkerungsteile über Nacht ihre in Aktien angelegten Ersparnisse verlieren? Wie sieht die Zukunft des Internets als öffentlichem Forum aus, wenn Forschung und Entwicklung sich nur noch auf E-Commerce und E-Business konzentrieren? Wer wird zukünftig die Backbones kontrollieren? Kurz, wird die offene und dezentrale Struktur des Internet im 21. Jhdt. noch erhalten bleiben?

Untersuchungen von Saskia Sassen (The Global City) und Manuel Castells (The Network Society) sind wichtige Inspirationsquellen für die Entwicklung dieses Konzepts gewesen. Die Einführungsphase der Neuen Medien kommt in den meisten westlichen Ländern zu einem schnellen Abschluß, ebenso wie die Vernetzung der Finanzsysteme. Das Netz wird nicht mehr kommerzialisiert, es ist bereits zum Rückgrat von Handel und "Business-to-Business" geworden. Internet und Ökonomie beginnen miteinander zu verschmelzen.

Öffentliche Internet-Einrichtungen (reale oder virtuelle), die nicht für kommerzielle Zwecke eingerichtet oder inhaltlichen Regulierungen unterworfen sind, wurden marginalisiert oder sind ganz verschwunden. Die öffentliche Förderung ist versiegt, mit dem Effekt, dass das Netz konzeptuell "gesäubert" wurde und nun dem kommerziellen Geschäft nichts mehr im Weg steht. Regierungen, die einst die Grundlagenforschung für Netzwerkstandards förderten, sind nun vor allem an Regulierung der Inhalte und einer übergreifenden Gesetzgebung für den Internet-Geschäftsverkehr interessiert. Kommunikation ist zu einem Anhängsel des E-Commerce geworden, siehe das traurige Schicksal der "virtual communities". Selbst die "Kalifornische Ideologie" der Zeitschrift "Wired" wird von den "big players", die kein Interesse an libertärem Hippie-Talk haben, durch das neue Allgemeinwissen für die online-Massen verdrängt.

Die Fusion von AOL und Time Warner, der Hype um die Technologie-Aktien, die Sonderstellung des Nasdaq und des Neuen Markts symbolisieren eine neue Formation vernetzter ökonomischer Macht. Aber für wie lange?

Was nun ansteht, ist nicht alternative Trendbeobachtung, sondern die Formulierung einer umfassenden Kritik der New Economy und die Herausbildung eines kollaborativen Diskurses für jene, die an der Entwicklung von Netzen selbst beteiligt sind. Eine informierte und pro-aktive Analyse der neuen Formationen sollte Möglichkeiten eröffnen, in dieser neuen Umgebung zu handeln und zu intervenieren. Geert Lovink, März 2000

TULIPOMANIA DOTCOM_Projektbeschreibung / Diskussionspapier Das Projekt verbindet erstmals in einem breiteren öffentlichen Rahmen Fragestellungen der "Netzkultur" und des sich rapide entwickelnden ökonomischen Umfeldes. Die durch das Internet sich neu herausbildenden Wirtschaftsfelder und die gleichzeitige Dynamik der elektronisch vernetzten internationalen Finanzmärkte sind zu den wesentlichen Zukunftsfaktoren der Wirtschaft geworden. In einer Verschiebung des üblichen Fokus und in der Einbeziehung unterschiedlicher Positionen und Aspekte versucht die Konferenz, die Komplexität des Themas widerzuspiegeln und neue Zugänge zur New Economy zu ermöglichen.

Dabei konterkariert sie einerseits die Verengung durch die Mainstream-Berichterstattung in den Medien und die Reduktion auf rein ökonomische Fragestellungen in der Fachdiskussion. Andererseits zielt sie auf eine Auffrischung der kulturellen Diskussion, die vielfach erst beginnt, die Technologie in ihren Horizont einzubeziehen. Währenddessen hat sich die Entwicklung längst von der Entdeckung der technologischen Möglichkeiten zu ihrer ökonomischen Anwendung verschoben und den kulturellen und utopischen Impetus hinter sich gelassen.

Im Zentrum der Diskussion steht zum einen die Rolle der internationalen Finanzmärkte, die sich von einem ehemals geschlossenen zu einem teilweise offenen System verändern. Welche Einflussstrukturen und Machtkonzentrationen bilden sich hier und für das Wirtschaftssystem insgesamt heraus? Wie ist ihnen zu begegnen? Worin liegen die mittel- und langfristigen Konsequenzen z.B. für den öffentlichen Sektor oder die Ränder der globalen Ökonomie? Parallel und damit verknüpft findet eine Ökonomisierung des Internets statt, die dieses zum Rückgrat der "Neuen Wirtschaft" werden lässt. Damit stellen sich gleichzeitig Fragen nach Interventionsmöglichkeiten und alternativen Strategien innerhalb dieses neuen Kommunikations- und Wirtschaftsraums.

"Tulipomania Dotcom" geht auf die Initiative des renommierten Medientheoretikers und -aktivisten Geert Lovink sowie weiterer Protagonisten der Nettime-Mailingliste zurück und steht in einer Reihe von wichtigen Konferenzen zu kulturellen und sozialen Implikationen der neuen Kommunikationstechologien. Amsterdam bildet mit seiner dichten Infrastruktur praktischer und theoretischer Aktivitäten auf diesem Feld einen internationalen Schnittpunkt. Während das Thema dort über zwei Tage in verschieden ausgerichteten Podien behandelt wird, ist die Frankfurter Veranstaltung eher im Sinne eines Workshops organisiert, auf dem die Ergebnisse der vorangegangenen Tage präsentiert und mit Experten aus dem näheren Umfeld diskutiert werden.

Die weiterentwickelte Form der kapitalistischen Wirtschaft auf globaler Ebene, die so genannte "New Economy", ist gekennzeichnet durch fortschreitende Vernetzung von Produktion, Distribution, Konsum und Kommunikation sowie durch einen erhöhten Innovationsdruck.

Doch das Erfolgsbild der New Economy zeigt erste Risse. Die Finanzmärkte, die aufgrund optimistischer Erwartungen einen starken Boom erlebten, werden mit spekulativen Überbewertungen konfrontiert. Instabilität und unterschwellige Krisenhaftigkeit kennzeichnen die aktuelle Situation. Wird man in einigen Jahren noch von einer "New Economy" reden oder wird man sie nur noch als spezifisch gefasste Phase der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung sehen, analog zur wiederholten Verkündung vom Ende der Industriegesellschaft? Wie wird diese Entwicklung künftig verlaufen und welche Alternativen stehen offen? *** Bestandsaufnahme Wie hat sich die New Economy herausgebildet und wie wird sie sich etwa in der Form des Neuen Marktes - in der nächsten Zeit weiter entwickeln? Hierbei besteht auch über das Moment der Vernetzung ein enger Zusammenhang zwischen Finanzmärkten und technologisch basierter Neuformation des Wirtschaftsystems und seiner Kommunikations- und Vertriebswege.

Politisch-ökonomische Macht geht zunehmend auf die Akteure der globalisierten Finanzmärkte über, deren strategische Zentren in den metropolitanen Knotenpunkten der vernetzten Wirtschaftsräume Nordamerika, Westeuropa und Ostasien angesiedelt sind. Finanzmärkte und New Economy hängen in dieser Hinsicht zusammen und verstärken sich in ihrem Einfluss wechselseitig.

Dabei unterliegen auch die Finanzmärkte selbst durch Dezentralisierung, Rund-um-die-Uhr-Aktivität, neue Zugänge für private Anleger und verstärkte öffentlich-mediale Präsenz Transformationen, die ihre Stabilität infrage stellen. So sind laufende Fusionen und Unternehmenskäufe nur das Spiegelbild verschärfter Konkurrenzbedingungen bei gleichzeitiger Marktkonzentration.

Was sind die Kosten? Sind die aus digitaler Vernetzung zu erwartenden Produktivitätssteigerungen nur selektiv wirksam? Führen sie zu neuen ökonomischen und sozialen Ungleichgewichten? Die Frage läßt sich ebenso auf mikro- und makroökonomischer wie auf sozialer, psychologischer und kultureller Ebene stellen. Die Herausbildung neuer gesellschaftlicher Schichten und Klassen, verstärkte ökonomische und politische Ungleichgewichte auf internationaler Ebene, aber auch ein erweiterter Zugriff der ökonomischen Logik auf den privaten Bereich, begleitet von entsprechenden Verwerfungen auf den Arbeitsmärkten sind zu konstatieren. Inwiefern wird die laufende Flexibilisierung und Anpassung der Lebenswelten zu neuen politischen Spannungen führen?
Wird die Frage nach einer Anpassung von Menschen und einer Einbindung peripherer Ökonomien gestellt, werden neuen Spannungen erwartet? Die Kommerzialisierung/ Privatisierung/ Ökonomisierung des Internet wird zunehmend als Beschränkung von Öffentlichkeit betrachtet und widerspricht der Vorstellung einer Demokratisierung durch die neuen globalen Kommunikationsnetze.

Ökonomische und öffentliche Alternativstrategien Am Ball bleiben oder aussteigen? Wird die Neue Wirtschaft wirklich zum dominierenden Modell? Ist die Entwicklung unumkehrbar, oder gibt es Einflussmöglichkeiten und erfolgversprechende Gegenstrategien? Auf zivilgesellschaftlicher Ebene, autonom organisiert, oder im Sinne staatlicher Regulierung, z.B. bei der Einschränkung spekulativer Attacken auf den internationalen Finanzmärkten. Wie kann eine öffentliche Diskussion aussehen? Technologisch betrachtet sind solche Netzarchitekturen, die alternative soziale und inhaltliche Schwerpunkte aufrechterhalten oder herausbilden, dringend gefragt. Welche Chancen haben sie in einem System, in dem die wirtschaftlichen Machtzentren ihren Zugriff auf das Netz immer weiter ausdehnen und es ihren strategischen Bedürfnissen kommerziell und juristisch anpassen?
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